Wimpernkleber, Lippenstift, High Heels – Christian ist fertig geschminkt.

Der Hamburger Travestiekünstler offenbart einen intimen Einblick hinter die Kulissen der Glitzerwelt von St. Paulis Drag Szene. 


ChristiAN

November 2021. Ich sitze mit zwei befreundeten Sängern in einer Bar des Kreuzfahrtschiffs, auf dem ich derzeit arbeite. Nach dem vierten oder fünften Cocktail setzt sich ein Mann zu uns, den Sängerin Isabell mir als Christian vorstellt. „Nie gesehen“ denke ich, werde das Gefühl aber nicht los, dass ich ihn kennen sollte und er mich kennt.

Christian ist Travestiekünstler; Vor wenigen Tagen habe ich seine Cabarretshow „Fanny Funtastic“ fotografiert, geschminkt und „im Fummel“ wirkt er auf mich wie eine ganz andere Person. Im Laufe des Abends und einigen weiteren Cocktails bemerke ich kleine Gesten – ein verlegenes Lachen, die Art mit der er seine Hand bewegt – die mir unterbewusst auch bei Fanny aufgefallen sind. Fasziniert von diesen subtilen und doch offensichtlichen, unterschwelligen und wahrscheinlich unbewussten, Grundzügen seiner Persönlichkeit, die sich durch Privat- und Kunstfigur ziehen, wollte ich mehr wissen.

Was macht diesen Menschen aus? Wie tickt er? Warum tickt er?

Als ich ihn und seinen Mann zum ersten Mal in ihrer Wohnung auf St. Pauli besuche, empfangen mich der Geruch von Kaffee und ein aufgeregter Chihuahua. Eine schnelle Umarmung, in die Küche, Kaffee trinken, Hund streicheln, Ehemann Justin kennenlernen. Der für zwei Personen eingerichtete Raum zwingt Justin, es sich auf der Arbeitsplatte bequem zu machen. Wenig später verlagern wir unser Beisammensitzen in eines der vielen Cafés am Spielbudenplatz. So werden in Zukunft die meisten Treffen ablaufen: Cafés, Bars, zwischendrin Alltag, schminken und Touristentouren über den Kiez.

Während meiner Besuche in der Wohnung von Christian und seinem Mann erfahre ich immer mehr über die Hamburger Travestieszene, aber mindestens genauso viel über mich selbst.

Wie darf ich als heterosexueller Mann in dieser meist homosexuell geprägten Szene agieren?

Wo liegen meine fotografischen Verantwortungen? Fragen, mit denen ich mich in dieser Arbeit auseinandersetze.


2022

Bei geschlossenen Jalousien eine schnelle Zigarette während der Wimpernkleber trocknet. Christian will kurz seine Ruhe haben. Ein Moment der Stille und des Runterkommens in seiner Wohnung vor der anstehenden Touristentour.

Christian arbeitet in einer Vollzeitstelle bei einem Palliativpflegedienst. Auf die Stelle als Assistent der Geschäftsführung hat er sich während Corona beworben, nachdem durch Lockdowns seine langjährige Beschäftigung für das Schmidt Theater beendet wurde, durch die er zur Travestie fand.

Seinen Mann Justin (rechts) sieht Christian eher selten. Er arbeitet in einem Life Escape Room, durch sich überlappende Arbeitszeiten sehen die beiden sich meist nur abends. Christian erzählt mir lächelnd von gemeinsamen Restaurantbesuchen an Wochenenden.

Als wir abends mit Freunden und Nachbarn der beiden auf dem Spielbudenplatz sitzen, sehe ich in der Dunkelheit, wie Christian von der Toilette zurückkommt. Mir fällt sein Gang auf; entschlossen, auf eine Art grazil und so elegant wie leicht. Er ist mir bereits bei unserer ersten Begegnung auf dem Kreuzfahrtschiff vor anderthalb Jahren im Gedächtnis geblieben ist.

Mit seinen Nachbarn, die er wohl fast alle auch zu seinen Freunden zählt, verbringt er die Zeit nach seiner Arbeit in den Bars auf St. Pauli. Durch seine frühere Beschäftigung im Schmidt Theater und viele gute Kontakte bekommt er das ein oder andere Getränk stark vergünstigt.

Eines der drei Zimmer seiner Wohnung ist gefüllt mit Kleidern, Mänteln, einem Schminktisch und Perücken. Der Vorhang ist ganzjährig geschlossen. Schminken im Sommer ist das Schlimmste, erzählt er. Sobald man ins Schwitzen kommt, kann man eigentlich von vorne anfangen. 

Blick in den Innenhof.

Der geschlossene Vorhang sorgt dafür, dass die Nachbarn nicht wissen, was im Zimmer passiert, sperrt sie aus der warmen Welt aus Glitzer, Makeup und Lederstiefeln aus. Einzig ein kleiner Spalt zeigt die karge Häuserfassade gegenüber. 


Mit Pausen dauert das Schminken rund anderthalb Stunden. Anderthalb Stunden, in denen Christian außergewöhnlich ruhig wird. Der sonst sehr extrovertierte Mensch, bei dem fast immer etwas los ist, sitzt dann still vor seinem Schminkspiegel und „malt sich ein Gesicht“.

Für Justin ist es ganz normal, dass Christian sich am Wochenende schminkt. Nach den Kieztouren schminkt er sich wieder ab; ist eigentlich nie zum Selbstzweck geschminkt. Die Kunstfigur Fanny spielt keine sexuelle Rolle in der Beziehung zwischen Justin und Cristian.

Die Auswahl der Perücke fällt jeden Tag auf eine andere Farbe. Mehr als zehn stehen zur Auswahl. Sobald die Haare sitzen, ist die Verwandlung fertig. Christian ist Fanny. Es scheint fast, als sei das gar nicht ihre Wohnung. Mit den 15 cm hohen Schuhen, ihren Haaren und der Mütze wirkt sie in dem kleinen Flur riesig. 

Auf dem Weg zur Olivia Jones Bar, von wo aus die Kieztouren starten, schauen sie überraschend wenig Menschen an. Ob das nun an St. Pauli liegt oder an meiner falschen Erwartungshaltung, weiß ich nicht. Fanny geht anders durch die Straßen als Christian. Fanny wirkt fast selbstbewusster, obwohl man Christian kein mangelndes Selbstbewusstsein unterstellen kann. Fanny wirkt stolz.

Seit mehreren Jahren macht Fanny Kieztouren. Organisiert wird das Ganze von ihrer Kollegin Olivia Jones, die selbst keine Touristentouren mehr läuft. „Zu gefährlich für sie“ sagt Fanny. „Die bräuchte wahrscheinlich drei Securitys“ Auch bei Fanny läuft immer ein böse aussehender aber super lieber Securitymitarbeiter mit.