Ich treffe Florian zum ersten Mal im Backstageraum des Pulverfass Travestie Theaters in Hamburg.
Eigentlich treffe ich mich mit Daisy Ray, die ich nur unter ihrem Künstlernahmen kenne lerne. Sie nimmt mich mit hinter die Kulissen ihrer Show, „Atlantis“, und führt das Publikum genauso wie mich durch den Abend.
Ich stehe in einem der zwei kleinen Gaderobenräume hinter der Bühne, zwischen Kostümen und Requisiten, es riecht nach Haarspray und Parfum. Die Show hat gerade angefangen und Daisy steht auf der Bühne, begrüßt ihre Gäste. Das Ensemble besteht an diesem Abend aus 11 Leuten; Tanz, Gesang und Cabarreteinlagen bilden das Herz der Travestieshow.
Während ich in der Backstagegaderobe stehe und die Situation in mich aufsauge, schminkt sich Florian für seine nächste Nummer die Wangen nach. Er tritt unter dem Namen „Daisy von Butenschön“ auf. Mit 10 Jahren tritt er in einen Karnevalsverein ein, betreibt Hochleistungstanz als Hobby. Als der gelernte Fleischermeister 2019 einen Travestiekünstler für ein Karnevalsevent buchen wollte, lernt er seinen späteren Kollegen kennen. Es entstand eine Freundschaft, die seitdem als Grundlage für die spätere berufliche Verbindung der beiden dient . Seit dem Corona-Lockdown treten Florian und Florian – Daisy und Divia – gemeinsam auf.
Er fragt mich, was ich hier mache, in der Garderobe, zwischen halb oder ganz nackten Tänzern mit der Kamera, still, zurückhaltend. Was mache ich hier? Ich antworte mittlerweile fast automatisch mit der Story über mein Uniprojekt, mache ein oder zwei Witze darüber dass ich wie fast immer in Zeitnot bin und mein Projekt in wenigen Tagen abgeben muss.
Was mache ich wirklich hier? Nicht hier in der haarspraygefüllten Garderobe, sondern in Hamburg, auf der Reeperbahn, in Wohnzimmern und Küchen von Travestiekünstlern, die ich als Privatleute kennenlerne. Auf alten Ledersofas und im heißen, fensterlosen Separee des Theaters, in dem ich mein Studio aufgebaut habe.
Vielleicht will ich am ehesten etwas über mich selbst erfahren. Wie funktioniert diese mir komplett fremde Travestiewelt? Wie kann, darf und sollte ich als heterosexueller Mann in dieser größtenteils queeren Gesellschaftsgruppe agieren? Wie unterschiedlich betrachten wir dieselben Sachverhalte?
Als ich seinen Kollegen frage, mit welchen Worten er Florian beschreiben kann, ist die Antwort schnell klar. Ehrlich, kreativ, zielstrebig. Drei Eigenschaften, die er für die Zusammenarbeit sehr zu schätzen weiß. Beide sind als Teil des Ensembles von Juni bis Juli im Pulverfass engagiert. Danach spielen die beiden zweimal im Monat in Gasthäusern und an Karneval.
Im Vorfeld hatte ich überlegt, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, warum Menschen als Travestiekünstler auftreten. Im Laufe der Gespräche wird mir aber immer klarer, dass es auf diese Frage keine hochtrabende oder philosophische Antwort gibt. Für die meisten ist es ganz einfach ein Job, womöglich einer, an dem man mehr Spaß hat als an anderen, einer der den Zuschauern ein abtauchen in eine fantastische Welt ermöglicht, aber trotz allem ein Job. Niemand, mit dem ich gesprochen habe, tritt in Travestietheatern auf, macht Touren „im Fummel“ über den Kiez oder tritt im Fernsehen auf, um Vorurteile zu bekämpfen oder die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Florian sitzt neben seinem Kollegen Florian vor dem Schminkspiegel. In der kleinen Garderobe sind sechs Spiegel an zwei Wänden verteilt, sieben Leute drängen sich davor. Nach einigen Minuten und meiner journalistisch höchst wertvollen Frage „Was geht bei dir so?“ kommen wir ins Gespräch. Florian wirkt aufgeschlossen, ein wenig mehr als sein Kollege. Obwohl ich keinen der sieben Leute in der Garderobe jemals gesehen habe, gehören die beiden für mich zusammen. Ob durch ihr ähnliches Kostüm, durch ihre benachbarten Schminktische oder ihre Vertrautheit weiß ich nicht.
Florian erzählt mir von seinem Werdegang. Früher fand er Travestie seltsam, anrüchig und verrufen. Etwas für alte Männer, die sich Frauenkleider anziehen und darin auftreten. Die gern feiern, trinken, Sex haben; auch für Geld; alles im Frauenkostüm.
Durch Freunde schaute er vor 10 Jahren eine Travestieshow an und begann seine Haltung zu überdenken. Die alten Männer gibt es, sagt er mir. Aber eben auch viele andere. Durch mehrere Zufälle tritt er später mit seinem heutigen Mann selbst in einer Travestieshow auf; „Divia Jolie“ war geboren. Seit Kollege Florian ihn für sein Karnevalsevent gebucht hat, führen die beiden gemeinsam „Double Dees Event & Show Entertainment“.
Kollege Florian beschreibt ihn als kreativ, ehrlich und zielstrebig. Er kümmert sich um die Konzepte, die Texte und Kostüme, den kreativen Teil des Duos. Die Zusammenarbeit klappt deswegen so gut, weil beide offen miteinander umgehen. Seit Mai arbeiten beide im Pulverfass so intensiv zusammen wie nie zuvor, kleinere Spannungen gehören für die beiden dazu. An seinem Kollegen schätzt Florian die Ehrlichkeit, ihn mit Problemen direkt zu konfrontieren, anstatt hinter seinem Rücken. Eine Qualität, die er in der Szene noch nicht oft kennengelernt hat.
„Was erfährst du über die Gesellschaft“ frage ich ihn gegen Ende unseres Gespräches. Eine Frage, die mir mittlerweile viel wertvoller zu sein scheint als meine Ausgangsfrage nach dem „Warum“.
Florian erzählt mir von vielen Momenten, in denen Zuschauer ihm verkleidet nach der Show ungefiltert die Geschichten ihres Lebens erzählen; von sexuellen Fantasien bis hin zu Konflikten mit dem persönlichen Geschlecht, die sie seit Jahren mit sich selbst ausfechten. Dinge, die Menschen einem „anonymen“ Travestiekünstler anvertrauen, auch wenn für die Privatperson Florian dabei häufig eine Grenze überschritten wird. Gleichzeitig lebt er für die schönen Momente, die er den Zuschauern geben kann. Lächelnd erzählt er mir von einer Zuschauerin, die bei seinem Auftritt zum ersten mal seit Jahren wieder lachen konnte.
Wenn er eins gelernt hat, dann dass es in unserer Gesellschaft viel mehr Schein als Sein gibt.
Es scheint mir, als wären es häufig nicht die Travestiekünstler, die sich verstellen und inszenieren.