„Das ist meine Familie. Sind alle tot. Bis auf die hier. Das ist meine Cousine.“

„Und Robert.“

„Nee, der ist schon lange tot.“

„Hat der nicht gestern noch geschrieben?“

„Nee.“

„Das fühlt sich an, als würden die Erinnerungen wie Bücher aus einem Regal fallen.

Und du versuchst, sie zu greifen, und dann sind sie weg.“


„Und wo ist Kai?“

„Der ist doch hier!“

„Nee, das ist doch Michael!“

„Nee.“


Früher Nachmittag, um 2005. Nach dem Mittagessen gibt mein Opa vor, einen Mittagsschlaf zu halten.

Meine Oma, Magarethe, nimmt mich mit ins Bad, nimmt einen Rasierpinsel und sagt sinngemäß: „Komm, lass uns Opa kitzeln.“ Zuerst pinselt sie, dann ich über die Nasenspitze meines Opas, der jedes mal so tut, als würde er aus dem Schlaf aufgeschreckt. Kurz darauf schläft er wieder ein. Ein Spiel, von dem ich mit vier oder fünf Jahren nicht genug bekommen konnte, ist in der Retrospektive wahrscheinlich die älteste Erinnerung, die ich an meine Großeltern habe. Sicherlich aber die glücklichste.



Während der Umsetzung dieses Projektes habe ich mich gefragt, wer meine Oma eigentlich ist - wer sie war. 

Seit meiner frühen Kindheit leidet sie an einer ausgeprägten Hör- und Sehschwäche, was eine soziale Isolation mit sich brachte. Eine voranschreitende Demenz wurde so lange Zeit auf schlechte Ohren geschoben.

Seit ich mich erinnern kann, geht mein Opa nur kurze Strecken am Stock und später am Rollator. Seine vier Jahre ältere Frau ist in körperlich hervorragender Verfassung und erledigt zu dieser Zeit den Haushalt.


Ich denke, dass nach Jahrzehnten in sozialer Isolation einiges von ihrer Persönlichkeit verloren ging. Ihre beispiellose Hingabe gegenüber mir und meinem Vater, die Waffelhörnchen zum Nachtisch und besagter Rasierpinsel sind jedoch Dinge, die für mich meine Oma ausmachen. 


Um 2016 hatte sich die körperliche Verfassung meines Opas soweit verschlechtert, dass beide in ein Pflegeheim umziehen mussten. Ohne ihre gewohnte Umgebung schritt die Demenz meiner Oma nochmals stärker fort. 

Pflanzen waren schon immer ein zentraler Bestandteil ihres Lebens gewesen. Was in der Heimat ein Garten war, wurden nun Topfpflanzen. Mit schwindendem Kurzzeitgedächnis beginnt sie, die selben Dinge wieder und wieder zu erzählen, oft nur wenige Minuten später. Eine scheinbar tief in ihrem Bewusstsein verwurzelte Aufgabe ist das Blumengießen. Doch auch diese Erinnerungen schwinden so schnell, dass die Topfplanzen das häufige gießen schon bald nicht mehr vertragen und eingehen. Die Lösung waren Plastikpflanzen, bei deren Pflege sie eine innere Ruhe ausstrahlt, wie man sie bei ihr sonst nur selten sieht.


Im Moment nennt meine Oma mich Michael. So heißt mein Vater, ihr Sohn. Immer wieder fragt sie mich nach mir, richtet mir „Schöne Grüße“ aus. 


Angst vor dem Tod hat sie nicht, nur bettlägerich möchte sie nicht werden. „Werd bloß nicht so alt“ rät sie mir bei meinem letztem Besuch.

2022